Der Mythos des Fortschritts: Die konservative Antwort

Fortschritt ist eines der heiligsten Worte im modernen westlichen Vokabular. Ihn in Frage zu stellen, heißt, sich lächerlich zu machen. Zweifel daran gelten als reaktionär, rückschrittlich oder, schlimmer noch, als gefährlich. Doch die Vorstellung, die menschliche Gesellschaft bewege sich unweigerlich auf eine bessere Welt zu – moralisch, sozial und politisch – ist nicht nur naiv, sondern auch historisch ignorant.
Wahrer Fortschritt verläuft nicht linear. Er ist nicht unvermeidlich. Er muss erreicht, bewahrt und ständig bedroht werden. Der Konservative versteht das, denn die Geschichte lehrt es ihm so deutlich.
Beginnen wir mit einer einfachen Wahrheit: Alle Zivilisationen, die sich einst als fortschrittlich betrachteten, glaubten, den Gipfel der Entwicklung erreicht zu haben – bis sie zusammenbrachen. Rom rühmte sich seiner Gesetze und seiner Ingenieurskunst. Das klassische Griechenland war stolz auf seine Philosophie und demokratischen Institutionen, doch auch es wurde von inneren Konflikten und moralischem Verfall zerfressen. Das Byzantinische Reich galt jahrhundertelang als Bastion der christlichen Zivilisation, bis es äußerem Druck und innerer Korruption erlag. Heute erinnern wir uns an ihren Niedergang, ihren Fall – und an die Lektionen, die sie vergessen haben.
Und doch ist im heutigen Westeuropa der Mythos vom unausweichlichen Fortschritt zur Doktrin geworden. Portugal, die Nation, die einst ein Weltreich beherrschte und Männer hervorbrachte, die mutig genug waren, ins Unbekannte zu segeln und die halbe Welt zu entdecken, scheint sich nun einem gesteuerten Niedergang hingegeben zu haben. Nach der Ära des Estado Novo und den darauffolgenden Jahren sozialistischer Herrschaft ging der portugiesische Geist verloren und wurde durch stille Resignation und wachsende Abhängigkeit vom Staat ersetzt. Der Mut, der einst Karavellen baute und Ozeane überquerte, gibt sich heute mit bürokratischem Komfort und geminderten Erwartungen zufrieden. Unsere Universitäten, einst Leuchttürme des Wissens, sind zu Fabriken nutzloser Abschlüsse geworden – sie produzieren Absolventen ohne wirkliche Fähigkeiten und ohne Orientierung, nur um die Maschinerie der Universitätslobby und der staatlichen Subventionen zu füttern. Das stolze Erbe eines mutigen Volkes droht in Vergessenheit zu geraten, begraben unter Schichten institutioneller Selbstgefälligkeit.
Deutschlands jüngste Geschichte dient als paradigmatische Warnung. Nur wenige Nationen haben sich in der Nachkriegszeit so tief von ihrer historischen Identität gelöst. Im Namen des Fortschritts etablierte Deutschland eine Kultur der Vergangenheitsbewältigung – der Versöhnung mit der Vergangenheit –, die sich heute nicht als gesunde Erinnerung, sondern als zivilisatorischer Zweifel manifestiert. Patriotismus ist tabu geworden. Christliche Werte werden nur noch geflüstert, nicht verkündet. Das Ergebnis? Eine Gesellschaft, die sich ihrer Identität zunehmend unsicherer und damit anfälliger für die ideologischen Strömungen der Zeit wird.
Man könnte fragen: Welche Bedeutung hat das? Denn eine Kultur, die ihre Grundlagen vergisst, kann ihre Freiheiten nicht bewahren. Fortschritt, der von Prinzipien losgelöst ist, führt zu Abdrift. Und Abdrift führt zu Dekadenz.
Der Konservative lehnt den Fortschritt nicht ab – er lehnt seine Vergötterung ab. Technologischer Fortschritt? Hervorragend. Medizinische Innovation? Unverzichtbar. Aber moralischer Fortschritt? Soziale Aufklärung? Diese werden nicht an der Geschwindigkeit gemessen, mit der wir die Vergangenheit hinter uns lassen, sondern an der Weisheit, mit der wir aus ihr lernen.
Werfen wir einen Blick auf einige der sogenannten progressiven Erfolge der letzten Jahrzehnte: sinkende Geburtenraten, der Zerfall der Familie, die Abhängigkeit vom Staat auf Kosten der Autonomie, Zensur, getarnt als Inklusion. Sind das Zeichen einer blühenden Gesellschaft? Oder sind es Symptome einer Zivilisation, die ihren Weg verloren hat?
Die Geburtenrate in Portugal liegt derzeit bei unter 1,4 Kindern pro Frau. Ist das ein Fortschritt? Oder ist es das Zeichen einer Gesellschaft, die so atomisiert und zukunftslos ist, dass sie nicht mehr genug an sich selbst glaubt, um sich fortzupflanzen?
Deutschland steht vor einer ähnlichen demografischen Kluft. Trotz seiner wirtschaftlichen Stärke altert die Bevölkerung rapide, und sein Integrationsmodell – insbesondere seit der Migrationskrise 2015 – führt weiterhin zu sozialen Spannungen und politischer Polarisierung. Das Versprechen „Vielfalt ist unsere Stärke“ ist zu einem Mantra geworden, das zwar wiederholt, aber selten hinterfragt wird. Doch die Toleranz gegenüber allem hat keine Einheit geschaffen, sondern Fragmentierung. Heute steht das Land vor größeren sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Problemen als noch vor einem Jahrzehnt. Ein von oben verordneter Multikulturalismus ohne Anspruch auf Assimilation oder Wertschätzung nationaler Identität hat die Bande geschwächt, die die deutsche Gesellschaft einst zusammenhielten.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern: Der Komfort und die Stabilität, die wir heute als selbstverständlich erachten – unsere Straßen, die Rechtsstaatlichkeit, unser öffentliches Gesundheitssystem, unser Frieden auf den Straßen – sind kein Zufall. Sie sind das Erbe der Generationen vor uns, die hart gearbeitet, Opfer gebracht und die Grundlagen geschaffen haben, auf denen wir heute leben. Ihre Werte als überholt oder ihre Institutionen als unterdrückend abzutun, ist kein Fortschritt – es ist Undankbarkeit.
Die konservative Antwort auf all das ist nicht Nostalgie, sondern Realismus. Wir erkennen an, dass die westliche Zivilisation, einschließlich ihrer portugiesischen und deutschen Zweige, auf einer moralischen Ordnung basierte: Glaube, Familie, Pflicht, Hierarchie, Schönheit und Wahrheit. Wenn diese Säulen entfernt werden, mögen Gesellschaften modern erscheinen – aber sie werden hohl.
Als Konservative verteidigen wir die Vergangenheit nicht, weil wir sie idealisieren, sondern weil sie die Erinnerung an das birgt, was wirklich funktioniert. Die Würde der Familie. Die Bedeutung klarer Grenzen – sozialer, moralischer und kultureller –, die das Gemeinschaftsleben stützen. Die Rolle des Glaubens als Fundament der moralischen Ordnung. Dies sind keine überholten Ideen; sie sind die stillen Grundlagen jeder Zivilisation, die Bestand haben will.
Das bedeutet nicht blinden Widerstand gegen Veränderungen. Portugal hat wirtschaftlich von der europäischen Integration profitiert. Deutschlands Nachkriegsdemokratie ist ein Musterbeispiel an Stabilität. Doch die Vorstellung, Fortschritt bedeute ständige Neuerfindung, ist gefährlich. Manchmal ist wahrer Fortschritt eine Rückkehr zu Prinzipien – die Wiederentdeckung dessen, was frühere Generationen für selbstverständlich hielten: dass Tugend wichtiger ist als Mode und dass Freiheit ohne Verantwortung eine Sackgasse ist.
Man sagt uns, die Geschichte sei ein direkter Weg zur Gerechtigkeit. Doch die Realität ist komplexer. Fortschritte können rückgängig gemacht werden. Gesellschaften können technologisch voranschreiten und gleichzeitig moralisch zusammenbrechen. Ein Land kann schnellere Züge und tiefere Häfen bauen – und trotzdem vergessen, warum es existiert.
Deshalb muss der Mythos des Fortschritts hinterfragt werden. Portugal darf keine Angst davor haben, seinen Mut wiederzuentdecken – denselben Geist, der Hungersnot, Krieg, Diktatur und Revolution überlebt hat. Dieselbe Widerstandskraft, die Ozeane überquerte und über die Zeit hinaus träumte. Es geht nicht nur um Glauben oder Geschichte – es geht um Charakter. Es geht darum, sich daran zu erinnern, dass ein Volk mit Erinnerung, Würde und Stärke eine Zukunft aufbauen kann, die seiner Vergangenheit würdig ist.
Deutschland muss sich auch daran erinnern, dass eine gesunde Identität nicht aus Scham, sondern aus Dankbarkeit entsteht – aus der Anerkennung sowohl seiner Fehler als auch seiner Beiträge zu den moralischen, philosophischen und kulturellen Grundlagen Europas.
In beiden Ländern – und in ganz Europa – geht es nicht darum, die Zeit zurückzudrehen, sondern die Zerstörung ihrer Wahrzeichen zu stoppen. Wir müssen uns daran erinnern, dass nicht alles Alte unterdrückend und nicht alles Neue befreiend ist.
Geschichte verläuft nicht geradlinig – sie ist eine Spirale. Wir steigen auf, wenn wir uns erinnern. Wir fallen, wenn wir vergessen. Konservative wissen das. Und in Zeiten wie diesen ist dieses Wissen nicht nur wertvoll – es ist lebenswichtig.
Anmerkung der Redaktion: Die Ansichten der Autoren der in dieser Kolumne veröffentlichten Artikel werden möglicherweise nicht von allen Mitgliedern von Oficina da Liberdade geteilt und spiegeln nicht unbedingt die Position von Oficina da Liberdade zu den besprochenen Themen wider. Trotz gemeinsamer Vorstellungen vom Staat, den sie sich klein wünschen, und von der Welt, die sie sich frei wünschen, sind sich die Mitglieder von Oficina da Liberdade und ihre Gastautoren nicht immer einig über den besten Weg dorthin.
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