Orthorexie: Wenn gesunde Ernährung krankhaft wird
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Der Wahn einer gesunden Ernährung hat einen Namen: Orthorexie. Großteilen der Bevölkerung ist diese Art der Essstörung noch unbekannt – und das macht sie so gefährlich.
"Ich habe heute den ganzen Tag nur Gemüse gegessen" – klingt gesund? Ist es aber nicht. Eine Orthorexie, also zwanghaft gesund zu essen, ist auf Dauer ebenso eine Essstörung, wie Magersucht oder Bulimie. Wie du eine Orthorexie erkennst und wie der Weg zurück zu einem unbeschwerten Essverhalten gelingt, weiß Ernährungsprofi Maja Biel.
Orthorexie erkennen und behandeln: Dazu rät Ernährungsexpertin Maja BielBRIGITTE: Mit deiner Praxis für Ernährungstherapie bist du spezialisiert auf Emotionales Essen und Essstörungen – zu letzterem zählt auch die Orthorexie. Was ist das genau und woran erkenne ich sie?
Maja Biel: Eine Orthorexie, fachlich Orthorexia nervosa genannt, ist eine Essstörung, bei der 'gesund' zu essen ein Zwang wird. Sobald Dinge, die einem früher Spaß gemacht haben, wie beispielsweise das Essengehen mit Freunden, jetzt Stress auslösen oder schon gar nicht mehr möglich sind, dann ist das auf jeden Fall ein Warnsignal. Orthorexiebetroffene erlegen sich selbst Regeln und Verbote auf. Vieles fühlt sich für sie ungesund oder gar richtig gefährlich an. Oft ist das auch mit einer Angst vor bestimmten Lebensmitteln verbunden. Die Gedanken rund ums Essen und schließlich auch das Verhalten nehmen einen immer größeren Stellenwert im Alltag ein. Spätestens dann sollte man hellhörig werden.
Wann wird denn Gesundes ungesund?
Bei einer Orthorexie dreht sich alles um gesunde und ungesunde Lebensmittel – klassisches Schwarz-Weiß-Denken. Und das, was selbst als ungesund definiert wird, wird mit der Zeit immer mehr. Dadurch wird die Lebensmittelauswahl immer kleiner und Nährstoffdefizite können entstehen.
Gesund und ungesund – das sind Worte, die bezogen auf Lebensmittel überhaupt keinen Sinn ergeben.
Ein Beispiel: Wenn den ganzen Tag nur Salat gegessen wird, ist das auf Dauer auch unausgewogen und 'ungesund'. Dieses Schwarz-Weiß-Denken fördert die Entstehung von Essstörungen und die sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Dabei sind Betroffene immer jünger: Social Media spielt hierbei eine Rolle, da der Zugang einfach und immer verfügbar ist – übrigens auch zu Falschinformationen.
Ernährung wird in unserer Gesellschaft ganz stark zur Selbstoptimierung genutzt und ist oft mit Disziplin, Schuld und Angst verbunden.
Was macht ein gesundes Ernährungsverhalten aus?
Die Ernährung selbst hat viele Aspekte: Sie soll uns mit Nährstoffen versorgen und uns Energie geben. Aber Essen ist auch was Soziales, etwas, das Menschen verbindet. Auf dem Weg zurück zu einem natürlichen, gesunden Essverhalten ist es wichtig, dass die Verbindung zu sich selbst, zum eigenen Körper gestärkt wird. Denn er gibt uns die Signale, die wir brauchen: Hunger, Sättigung, Gelüste. Es gibt also nicht das, was gesund oder ungesund ist, sondern es kommt immer auf das Gesamte an. Wir essen 365 Tage im Jahr, mindestens drei bis sechs Mal am Tag. Viel Zeit, um Dinge auszuprobieren.
Ständige Gedanken rund ums Essen sind ein Zeichen, dass der Körper nicht das bekommt, was er braucht und das man selbst überhaupt nicht im Einklang mit seinen Bedürfnissen ist.
Wie sieht es mit emotionalem Essen aus – manchmal kann man ja gar nicht erkennen, ob man jetzt Appetit auf Schokolade oder Frust hat?
Für ein gesundes Ernährungsverhalten ist es ratsam zu lernen, negative Gefühle, wie Trauer, Wut oder Stress nicht über das Essen oder das Nicht-Essen zu kompensieren, sondern andere Wege zu finden, sich zu regulieren. Am Ende steht das intuitive Essen und das Vertrauen in den eigenen Körper und das haben wir natürlicherweise schon in uns. Es kann auch wieder erlernt werden.
Gibt es Menschen, die häufiger von dem Zwang, gesund zu essen betroffen sind?
Menschen, die perfektionistisch sind oder ein geringeres Selbstwertgefühl haben, haben ein erhöhtes Risiko an einer Orthorexie zu erkranken. Auch, wenn es bereits Essstörungen in der Familie gab, wenn die Mutter möglicherweise schon immer auf Diät war oder aber, wenn man einen bestimmten Beruf ausübt oder bestimmte körperbetonte Hobbys hat. Ich denke da an den Leistungs- und Tanzsport, bei denen der Körper und das Gewicht eine große Rolle spielen.
Eine Essstörung hat nichts damit zu tun, dass zu viel 'Germany's Next Topmodel' geguckt wurde. Das hat immer tiefere Ursachen.
Eine Essstörung beginnt immer mit einer Diät oder einer besonders gesunden Ernährung. Wir sollten weder loben, wenn sich jemand besonders gesund ernährt, noch das Gewicht kommentieren – auch nicht, wenn jemand abgenommen hat.
Etwas, das viele dennoch tun ...
Ja, wir wollen bestärken. Besser ist es aber, wirklich gar nichts zu sagen. Was nämlich bei der Person ankommt, ist, 'Oh, jetzt bin ich mehr wert'. Doch wenn nach einiger Zeit dann wieder an Gewicht zugenommen wird, geht bei der Person dann das Gedankenkarussell los, 'Ich lebe nicht mehr so gesund, also bin ich jetzt wieder weniger wert'.
Am besten gar nichts kommentieren: weder Körperformen, Abnahme, Zunahme noch Ernährungsverhalten – genauso bei Kindern.Gesunde Ernährung im Alltag: Worauf können wir achten?
Gesunde Ernährung heißt zum einen, den Körper gut zu nähren mit Nährstoffen die er gebraucht. Etwa mit Vitaminen, Mineralstoffen und Makronährstoffen, wie sie in natürlichen Lebensmitteln vorhanden sind. Sie bedeutet aber auch gleichzeitig, dass "Spaßessen" völlig in Ordnung ist – beispielsweise ein Stück Kuchen mit herkömmlichem Haushaltszucker, in dem wirklich nichts von dem enthalten ist, was der Körper braucht. Alles ist also möglich, sofern die Balance stimmt.
Brigitte
brigitte