Sätze, die man in Berlin nicht sagt, und was das über unsere Stadt erzählt

Der Berliner Sommer ist zurück, und so saß ich mit ein paar Freunden des Nachts in Kreuzberg auf der Straße. Einer hatte seinen Besuch vom Bodensee mitgebracht. Eine Frau um die 50, die zurück nach Berlin will. Hier wurde sie geboren, hier hat sie auch noch ihr Abi gemacht hat, und nun hält sie es am Bodensee nicht mehr aus. Gründe hat sie genug, alle dort würden Schwäbisch sprechen, reich sein und auch noch verheiratet, während sie selbst sich als alleinerziehende Mutter durchgeschlagen hat. Doch nun ist das Kind groß, sie könnte hinziehen, wo sie möchte. Arbeit würde sie wohl finden, nur eine Wohnung eben nicht. Das Problem ist bekannt.
Die Stimmung in unserer Runde war trotz dieser Leidensgeschichte euphorisch. Wir haben einfach schon zu viele Ich-finde-keine-Wohnung-Geschichten gehört, als dass wir uns jedes Mal runterziehen lassen. Und die Zeit der lauen Nächte war endlich angebrochen. Irgendwann fragte einer, ob er mit uns ein Spiel machen dürfe. Er wolle uns lauter Sätze vorlesen, die man in Berlin nicht sagt, und wir sollten erklären, warum. Sie standen auf einer Postkarte, sein Besuch hatte sie ihm geschenkt.
Bis auf den Besuch vom Bodensee leben wir alle schon lange in Berlin, manche bereits seit den 1980er-Jahren. Den Hauptstadt-Test wollten wir gerne machen. Er war dann auch gar nicht schwer. Sein Reiz besteht darin, dass er uns das Wesen unserer Stadt vor Augen führte.
Guck mal, da kifft einer oder: Ich habe die Wohnung in Kreuzberg bekommen„Kann ich so rausgehen“, lautete einer der Sätze, die man in Berlin nicht sagt. Oder: „Ach, wie nett, ein U-Bahn-Musikant“, „Guck mal, da kifft einer“, und: „Ich habe die Wohnung in Kreuzberg bekommen.“ Bei diesem Satz seufzte der Besuch vom Bodensee auf. „Eine Wohnung in Kreuzberg“, sagt sie schwärmerisch. „Das wäre mir am allerliebsten.“
Sie erzählte noch, dass ihr am Kottbusser Tor vor Nostalgie die Tränen kommen würden. Vielleicht ist das eine Bodensee-Perspektive. Wir Berlin-Bewohner meinten, Berlin würde uns nun auch öfter mal auf die Nerven gehen. Ein paar Sätze, die man in Berlin nicht sagt, bieten vielleicht eine Erklärung: „Die S-Bahn kommt“ oder „Bitte nach Ihnen“. Sie entlockten uns nur noch ein müdes Lächeln. Der marode öffentliche Nahverkehr, die nicht existenten höflichen Umgangsformen – ist es eine Alterserscheinung, dass wir das nicht mehr so okay finden?
Berliner-zeitung