Fast wäre er Maler geworden. Dann machte Wim Wenders Filme wie Gemälde. Jetzt wird das Universalgenie achtzig


In seinem Film «Alice in den Städten» (1974) schickt Wim Wenders den deutschen Journalisten Philip Winter auf eine Reportagereise durch die USA. Doppelt gehandicapt durch Melancholie und Schreibblockade, bekommt Winter in vier Wochen keine einzige Zeile zusammen. Stattdessen hält er Allerweltsszenarien amerikanischer Vorstädte in unzähligen Polaroids fest. Doch auch diese Fotografien bereiten dem ziellos Umherstreifenden, einem Alter Ego von Wenders, vorwiegend Verdruss: «Es kommt nie das raus, was man gesehen hat», bemerkt er an einer Stelle.
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Das Risiko, bei der Kartografie mit der Kamera die Wirklichkeit zu verfehlen, hat Wenders nicht daran gehindert, ein umfangreiches fotografisches Werk hervorzubringen. Es ist nun Teil einer Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle. Als Hommage zum 80. Geburtstag von Wim Wenders am 14. August läuft dort eine Ausstellung, die den Autorenfilmer als Universalkünstler zur Geltung bringt: Seine Spielfilme und Dokumentarstreifen, erste künstlerische Gehversuche, Behind-the-Scenes-Fotomaterial, Berührungspunkte mit Literatur und Musik, Polaroids und Panorama-Fotografien, nicht zuletzt Werke seiner Frau, der Fotografin Donata Wenders – all das und manches mehr bündelt die Schau «W.I.M. Die Kunst des Sehens».
Immer in BewegungW.I.M., das an eine Marke erinnernde Akronym, steht für «Wenders in Motion». Beweglichkeit im geistigen wie im faktischen Sinn kann man dem Künstler, der das «on the road» als Lebenseinstellung schon früh verinnerlichte, nicht absprechen. Das demonstriert nun auch die Bonner Werkübersicht, die im Positiven wie im Negativen überwältigt: Dem rastlosen Dasein korrespondiert eine Produktivität, die ausreichen würde, um das Œuvre von drei Normalkreativen zu bestücken. Allerdings fühlt man sich beim Rundgang mitunter erschlagen von der Fülle der Exponate aus dem unerschöpflichen Archiv von Wim Wenders.
Zum technischen Fortschritt der Bildkünste hat Wenders ein zwiespältiges Verhältnis. Zwar lehnt er die Digitalfotografie als Werkzeug der Kunst ab. Denn er betrachtet die «Fotografie als Verteidigung der Realität gegen den Ansturm des Virtuellen». Gleichwohl hat er in der Bundeskunsthalle eine Rauminstallation aufgebaut, die mit neuester digitaler Bild- und Soundtechnik aufwartet. Filmausschnitte, Schwarz-Weiss-Bilder und Musik vereinen sich hier zu einem immersiven Gesamtkunstwerk. «Tauche ein in den Wenders-Kosmos», lautet die Devise der opulenten Inszenierung.
Die Bilder, die Wim Wenders auch schon in zahlreichen Fotografieausstellungen gezeigt hat, zeichnen sich hingegen durch Distanziertheit und Sprödheit aus. Das gilt beispielsweise für «Western World Development». Einziger Eyecatcher der 1986 in Kalifornien entstandenen Landschaftsaufnahme, die wie mit dem Lineal unterteilt ist in monotone Prärie und kargen Himmel, ist ein Bauschild. Es kündigt eine Stadt an, die niemals errichtet wurde. Bei Wenders wird daraus ein Memento mori, gemünzt auf die Zivilisation, die am Ende der Natur unterliegt.
In Bonn ist die Fotografie «Western World Development» eingebunden in den Themenraum «Amerika». Er handelt von der Geschichte einer grossen Faszination und einer enttäuschten Liebe. In den siebziger Jahren waren die USA für Wenders das gelobte Land, was Musik, Kino und Kunst angeht. Doch als er hinter der «Scheinkultur», wie er sagt, nur noch Konsum und Kapitalismus am Werk sah, zerbröckelten seine Kulissen des American Dream.
Pathos der LeereWas diese Desillusionierung unversehrt überstanden hat, ist die Magie der grandiosen amerikanischen Landschaft. Besonders eindrücklich ist «Wyeth Landscape» von 2000. Knapp 3,3 Meter breit ist dieser C-Print. Pathos der Leere im Panoramaformat: Einige Holzhütten stehen inmitten einer grasbewachsenen Fläche, darüber der majestätische Himmel. Mehr ist kaum auszumachen auf der Fotografie. Sie ist eine Hommage an den amerikanischen Maler Andrew Wyeth, der das ländliche Amerika und die melancholische Schönheit der Natur feierte.
In seinen Fotografien eifert ihm Wim Wenders nach. Ohnehin ist die Malerei sein vorrangiger Kompass, nicht Film oder Fotografie. Gemälde, Zeichnungen und Collagen in der Bonner Ausstellung geben Einblick in sein bildnerisches Frühwerk. Von Caspar David Friedrich über Paul Klee bis zur Pop-Art reichen die Quellen der Inspiration dieser Werke. Zwar lassen sie ahnen, dass Wenders durchaus das Zeug zum bildenden Künstler gehabt hätte. Doch wecken sie nicht den Wunsch, dass er diese Spur weiterverfolgt hätte, anstatt seine Energie in erster Linie auf den Kinofilm zu konzentrieren.
Wahlverwandtschaft mit Edward HopperMitte der sechziger Jahre zog es Wenders nach Paris, weil er sich dort als Maler verwirklichen wollte. Aber der tägliche Besuch der Cinémathèque française, wo er innerhalb eines Jahres mehr als tausend Filme anschaute, änderte seine Pläne. Von 1967 bis 1970 ging er zum Studium an die Münchner Hochschule für Fernsehen und Film (HFF). Film als «Fortführung der Malerei mit anderen Mitteln», das wurde sein Credo. Erbteil der Malerei sind sowohl die langen, ruhigen Einstellungen seiner Filme als auch die frontale und symmetrische Bildkomposition sowie das präzise Spiel mit Licht und Farbe.
Viele Maler haben Wenders geprägt, doch zu einem empfindet er eine besondere Wahlverwandtschaft: Edward Hopper. Dessen «Gemälde wirken wie Standbilder von nie gedrehten Filmen», so Wenders. Als Hommage an den Meister atmosphärischer Dichte und psychologischer Tiefe läuft in Bonn Wim Wenders Kurzfilm «Two or Three Things I Know about Edward Hopper».
Die Ausstellung fordert zum vergleichenden Sehen heraus. Was unterscheidet Wenders’ Fotografien von seinen Filmen? Und worin korrespondieren sie? Technisch gesehen, besteht die markanteste Abweichung darin, dass das Foto einen Moment einfriert, während der Film einen Bilderfluss vor Augen führt. Verdichtet das Foto die künstlerische Aussage in einem Bild, so erzählt der Film eine Geschichte. Dafür braucht er Schauspieler. Menschen wiederum kommen in den Fotografien von Wim Wenders kaum vor.
Der Fotografie als Garantin der Wirklichkeit weist Wenders eine hohe Bedeutung zu. «Weil man im Kino so viel flunkert und fabuliert, möchte ich in der Fotografie nicht dazu verführt werden», hat er einmal bemerkt. Doch gibt es bei ihm eine Brücke, die die beiden Disziplinen verbindet, und das ist die Aura des Ortes.
Mit der Wünschelrute des genuinen Bildermachers durchstreift Wim Wenders die weiten Landschaften des amerikanischen Westens, sondiert Kneipen, Hotels und Tankstellen, erkundet urbane Brachen in Berlin oder dem Ruhrgebiet. Und wird fündig. Letztlich bilden Film und Fotografie im Schaffen von Wenders eine sinnfällige Allianz. Erzählen seine Filme, was an einem Ort geschieht, so bringen die Fotografien auf den Punkt, was ein Ort ist.
«W.I.M. Die Kunst des Sehens», Bundeskunsthalle, Bonn, bis 11. Januar 2026.
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