Eine «Heldin» allein reicht nicht, um den schwächelnden Schweizer Kinofilm zu therapieren


RTS, Bande À Part Films, Les Films Pelléas, Gaumont Télévision
In der Hitze Locarnos treffen sich dieser Tage Filmleute aus aller Welt. Aber das Festival ist traditionell auch ein Schaufenster fürs einheimische Schaffen. Oder es könnte es sein. Bloss sorgt dieses international seit Jahren selten für Aufsehen. Und im Heimmarkt sieht es nicht viel besser aus.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Nun wird wenigstens eine Fernsehproduktion zum Gespräch: Erstmals überhaupt ist die Piazza Grande für ein solches Format geöffnet worden, und die ersten zwei Folgen von «The Deal» haben dort am Montag das Premierenpublikum gefesselt.
Der als brillanter Dokfilmer bekannt gewordene Lausanner Jean-Stéphane Bron («Mais im Bundeshuus») hat den RTS-Mehrteiler zusammen mit der Französin Alice Winocour konzipiert. Er lässt ein historisches Ereignis des Sommers 2015, akribisch recherchiert und wieder hochaktuell, mit fiktionalen Elementen aufleben: Der Plot dreht sich um die letzte Verhandlungsrunde zu einem Atomabkommen zwischen Amerika und Iran in einem Genfer Luxushotel. Das wird zum packenden Anschauungsunterricht in Diplomatie als mündlichem Austausch in Zeiten, da auf diesem Parkett das Faustrecht um sich greift.
Die Bundesrätin schwärmtEine Kooperation mit Arte und privaten Partnern in Frankreich verhalf RTS zur kostspieligsten Serienproduktion seiner Geschichte: 12 Millionen Franken betrug das Budget für sechs Folgen à 45 Minuten. Das muss nichts heissen, die SRF-Miniserie «Davos 1917» war noch teurer und nicht so gut. Schon «Quartier des Banques», klar stärker als das SRF-Pendant «Private Banking», zeigte vor einigen Jahren: Die Westschweiz versteht sich aufs Serien-Handwerk. «The Deal» hat internationales Format, soweit sich das nach dem ersten Drittel beurteilen lässt (eine ausführliche Besprechung folgt).
Aber eine Schwalbe im Fernsehen macht noch keinen grossen Schweizer Filmsommer. So sicher, wie bei Vorführungen auf der Piazza Grande gelegentlich krachend eine Stuhllehne bricht, klagt die Branche in Locarno seit Jahren über Geldmangel, und das Publikum rätselt über den schwächelnden Schweizer Film. Dennoch oder gerade deshalb preist Bundesrätin Baume-Schneider diesen fortwährend in Reden bei der laufenden Festivalausgabe. Die Schweiz sei darin mit 28 Werken vertreten, lobte sie schon zur Eröffnung. Sie erwähnte nicht, dass fast die Hälfte davon die Sektion «Panorama Suisse» betrifft. Natürlich gibt es dort Perlen zu entdecken. Aber man wünschte sich mehr Strahlkraft.
Jean-Christophe Bott / Keystone
Die kulturministerliche Schönfärberei ist angesichts gegenwärtiger und noch drohender Sparmassnahmen bei der Förderung verständlich. Sie bringt das Filmschaffen aber so wenig weiter wie die Klage der Bundesrätin, man könne aus Geldmangel immer weniger Produktionen unterstützen und zurzeit nur jeden fünften Förderantrag annehmen. Bekannt ist, dass immer mehr Gesuche hereinkommen. Doch das Problem ist nicht, dass es zu wenige Schweizer Filme gäbe. Sabine Boss, Regisseurin von Kinohits wie «Der Goalie bin ig» und Leiterin der Abteilung Film an der Zürcher Hochschule der Künste, sprach an einem Branchenanlass in Locarno vielmehr von einer Überproduktion: Sie habe das Gefühl, hierzulande werde es mehr geliebt, Filme zu machen, als sie zu schauen.
Die Filmbranche operiert an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz, von Kultur- und Wirtschaftsförderung, was die Sache nicht einfacher macht. Das Bundesamt für Kultur (BAK) betont vermehrt die Bedeutung privater Firmen und Institutionen für die Filmförderung. Erzwungen wird dies seit Anfang 2024 durch die «Lex Netflix», gemäss der private Streaming- und Fernsehanbieter 4 Prozent ihrer hiesigen Bruttoumsätze ins Schweizer Filmschaffen investieren müssen. Wie das BAK am Rande des Festivals mitteilt, brachte das im ersten Jahr insgesamt 30 Millionen Franken von 21 Firmen ein. Ein Grossteil davon fliesst in Ankauf und Herstellung von Spielfilmen und Serien, ein Teil auch in die Werbung. Möge es fruchten.
Von den rund 90 staatlich geförderten Schweizer Filmen, die pro Jahr ins Kino kommen, erreichen die wenigsten mehr als ein paar tausend Eintritte. Der Marktanteil des einheimischen Schaffens dümpelt seit Jahren bei 5 bis 6 Prozent, 2024 stieg er etwas, vor allem dank der Komödie «Bon Schuur Ticino». Eine noch erstaunlichere Erfolgsgeschichte schreibt heuer «Heldin»: Petra Volpes famoses Spitaldrama zur Arbeit einer Pflegefachkraft, das in Locarnos «Panorama Suisse» und inzwischen auch auf Netflix läuft, zog hier gegen 200 000 Leute ins Kino (und nochmals so viele in Deutschland). Das Werk, mit dem die Schweiz ins Oscar-Rennen gehen wird, führt in einem semidokumentarischen Ansatz gesellschaftliche Relevanz mit Publikumswirksamkeit zusammen – wie «The Deal».
Zehn «Heldinnen» pro Jahr wären nötig, um dem Schweizer Kinofilm einen Marktanteil von über 20 Prozent zu ermöglichen, wie ihn die dänische Branche im Heimmarkt erreicht. Dabei wird hierzulande ein Mehrfaches an Filmen produziert (vor allem dank dem starken Dokumentargenre). Das «dänische Filmwunder» nahm übrigens seinen Lauf, weil sich die serbelnde Branche in den neunziger Jahren einen Ruck gab und ein gemeinsames Filmzentrum entstand. Dabei wurden die Budgets pro Film halbiert. Und erst nach dem Aufblühen vervielfachte der Staat die Fördermittel.
Mag sein, dass ein Intendanzmodell nach dänischem Vorbild auch dem Schweizer Schaffen zu einer Handschrift und mehr Wirkung verhälfe, wie es eine vom BAK bestellte externe Studie 2024 festhielt. Darin wurde der Effizienz des mit rund 80 Millionen Franken im Jahr dotierten Schweizer Subventionssystems kein gutes Zeugnis ausgestellt. Es muss also weniger über Geld geredet werden als über Inhalte, etwa über den chronischen Mangel an guten Drehbüchern.
Kinoeintritte und Einschaltquoten sind ein Gradmesser für Erfolg, Festivalpreise ein anderer. In den Hauptwettbewerb von Locarno hat es heuer als einziger Schweizer der Neuenburger Fabrice Aragno geschafft. Sein «Le Lac» im 4:3-Format ist eine Art Meditation in phantastischen Bildern, weitgehend stumm und ohne Handlung im klassischen Sinn. Die Kamera begleitet ein Paar auf seinem Segelboot an der 120-Stunden-Regatta «5 jours du Léman» auf dem Genfersee, durch stille und unruhige Gewässer, zwischen Wolken und Wellen, bei Tag und Nacht.
Bewundernswert ist die künstlerische Konsequenz Aragnos, der in den letzten Filmen von Jean-Luc Godard unter anderem dessen Kameramann und Vertrauter war. Allerdings gehört sein Beitrag weder zu den heissesten Anwärtern für den Goldenen Leoparden, noch wird er als Nischenprodukt ein grosses Kinopublikum erreichen.
nzz.ch