Kletterer wehrt sich gegen Vorwürfe – Expertin erklärt, was nach Tod eines nahen Menschen passiert

Thomas Huber suchte die verunglückte Laura Dahlmeier. Nach der Pressekonferenz kritisierten ihn manche für seinen Auftritt. "Respektlos", beklagt der Bergsteiger. Dabei brauchen er und Marina Krauss nun genau das: Respekt für ganz persönliche Trauer. Das erklärt Psychologin Gisa Gerstenberg.
Es ist eine tragische Geschichte rund um Laura Dahlmeiers tödlichen Absturz. Sehr viele Menschen nehmen Anteil, sind traurig und stellen sich Fragen. Einige davon haben ihre Seilpartnerin Marina Krauss und der Bergsteiger Thomas Huber in einer Pressekonferenz beantwortet – recht sachlich, ohne Tränen.
Genau das wirft bei manchen Menschen in den sozialen Medien neue Fragen auf, führt zu Unverständnis.
Ein Nutzer schreibt auf Instagram: "Es war von Anfang an mit vielen Fragezeichen gekennzeichnet – aber seit dem Interview noch mehr. Das Interview lässt mich noch mehr zweifeln. Als hätte man einen Text auswendig gelernt, den man dann einfach ohne Gefühl und Mimik erzählt".
"Wir versuchten, alles Erlebte klar zu formulieren, Worte zu finden, alles zu beschreiben und das emotionale Gewitter in uns außen vor zu lassen. Viele eurer anschließenden Kommentare waren respektlos und ihr habt keine Ahnung, was in uns allen vorgeht, wenn wir diese Geschichte vor laufender Kamera erzählen."
Damit bringt Huber vieles von dem, was in der Trauer geschieht auf den Punkt. Gisa Gerstenberg, stellvertretende Chefärztin Parkklinik Heiligenfeld, erklärt im Gespräch mit FOCUS online, was nach solchen Schockmomenten in uns abläuft.
"Bei Situationen wie Tod, Unfall, Katastrophen oder auch Gewalterleben sind wir häufig überfordert und haben einfach kein normal greifendes Handlungsrepertoire mehr, mit dem wir solche traumatischen Zustände bewältigen können. Dann entsteht eine akute Belastungsreaktion", erläutert die Psychologin.
Es sei normal, dass diese Tage oder auch Wochen andauere. Die Menschen zeigen die unterschiedlichsten Verhaltensweisen von Aggressivität über Rückzug oder Isolation bis zu Beibehalten der Normalität.
Sie ergänzt mit Blick auf die Seilpartnerin Marina Krauss, die sich ebenfalls rational zeigte: "Man darf nicht vergessen, dass es für eine Bergsteigerin essenziell und überlebensnotwendig ist, in einer Krisensituation ruhig und sachlich zu reagieren."
"Warum sehen wir in dieser Gruppe jetzt nicht Trauer? Diese Frage stellen sich nun manche Menschen", sagt die Expertin. Verständlich. Aber das verkennt die Komplexität der Situation. "Es ist ganz wichtig, dass wir mit Achtsamkeit, Mitgefühl und Respekt für den individuellen Trauerprozess von jedem Einzelnen und eben auch von Thomas Huber und Marina Krauss herangehen. Jeder trauert auf seine Art."
Jeder Mensch durchläuft einen persönlichen Prozess. "Trauer läuft in vier Phasen ab", betont Gerstenberg. (Elisabeth Kübler Ross ist eine Psychiaterin, die in den 70er Jahren dazu geforscht hat. Bei ihr hat unser jetziges Verständnis von Trauer wahrscheinlich seinen Ursprung. Ein darauf aufbauendes Modell ist von Verena Kast.)
"Das Aufbrechen von Emotionen – Trauer, Wut, Angst, vielleicht auch Verzweiflung und Schuldgefühle – all das würden viele jetzt erwarten und sehen wollen. Das ist aber erst die zweite Phase", unterstreicht Gerstenberg.
Vor dieser steht die erste Phase: Das "Nicht-Wahrhaben-Wollen", die akute Belastungsreaktion, der Schockzustand und die Unfähigkeit, den Verlust wirklich zu realisieren. "Jemand, der das mit Laura Dahlmeier miterlebt hat, also diese gesamte Gruppe, ist nun möglicherweise erst einmal in dieser ersten Trauerphase."
Die dritte Phase ist normalerweise die Auseinandersetzung mit dem Verstorbenen, auch die Suche nach Möglichkeiten, jetzt das Geschehene zu integrieren, die Beziehung aufrechtzuerhalten durch Erinnerungen oder Gespräche mit anderen über das Geschehene. Das ist ein Prozess, wenn die Emotionen verarbeitet sind.
Die vierte Phase ist der neue Selbst-und Weltbezug nach all dem. Das heißt, den Verlust ins Leben zu integrieren und neue Perspektiven sowie Ziele zu entwickeln.
All dies könne zum Teil parallel stattfinden oder sich überlappen. Die Expertin erläutert: "Aber die Phasen in ihrer Klarheit zu verstehen, hilft zu begreifen, dass Menschen sich in unterschiedlichen Stadien befinden und wir nicht von jemand anderem erwarten können, dass er gerade ebenfalls dort ist."
"Hätten wir weinen sollen? Ich hatte selbst kaum Zeit, es wirklich zu verarbeiten. Zuerst der Rettungsversuch, wo wir alle funktionieren mussten, selbst, als wir Laura entdeckten. In diesen Moment haben wir wahrgenommen, rational abgewogen, was die nächsten Schritte sein könnten. Das sind die Momente, in denen jede Emotion beiseite gelassen werden muss und der klare Verstand die einzige Maxime sein darf."
Thomas Huber beschreibt sein Innenleben sehr eindrücklich in seinem Instagram-Beitrag. "Bei Thomas Huber und Marina Krauss findet noch das eigene Überleben statt", erklärt die Psychologin hierzu. "Und bei der Verarbeitung all dieser Prozesse hat sowieso jeder Mensch sein eigenes Tempo und seine Herangehensweisen. Wenn wir jetzt bedenken, dass auch andere Menschen trauern und die Öffentlichkeit involviert ist, verschränkt sich alles miteinander." Diese Perspektive sei für jemanden, der nicht vor Ort ist, häufig schwer nachvollziehbar.
"Jemand, der gar nicht dabei war und vielleicht deswegen dieses erste Stadium vom Anfangsschock gar nicht so stark empfindet und in seinem bequemen Wohnzimmer sitzt, ist vielleicht schon weiter, in der Phase zwei und empfindet Trauer, Wut sowie diese intensiven Emotionen", sagt Gerstenberg.
"Diese Person ist dann hoch irritiert, das nicht bei der Seilpartnerin wahrnehmen zu können." Darum sei das Verständnis zentral, dass jeder Mensch anders trauert und zu verschiedenen Zeitpunkten weint – oder eben nicht. Dieser Umstand sollte berücksichtigt werden, "bevor wir anfangen, jemanden zu beurteilen oder zu verurteilen."
Wie geht es nun weiter? Wie die einzelnen Phasen ablaufen, ist für jeden Menschen ebenfalls individuell. Laut der Medizinerin hat jeder eine andere Art:
- Einige machen es eher mit sich selbst ab, andere suchen Unterstützung.
- Um die verstorbene Laura Dahlmeier gebe es immerhin schon eine eingeschworene Gruppe, die zusammenhalte. Das sei bestimmt sehr stützend.
- Manche Menschen suchen Halt in Glaubensgemeinschaften, bei Angehörigen, bei Freunden.
- In Kliniken gibt es auch Trauergruppen, Therapiegruppen zur Trauerbegleitung sowie Achtsamkeitsgruppen.
Der Druck von außen für die Bergsteiger-Gruppe sei nicht zu vernachlässigen. "Sie müssen allen möglichen äußeren Ansprüchen genügen. Sich den Blick nach innen auf die eigene Trauer zu leisten, ist nicht einfach." Da würde sie erst einmal jedem die Zeit zugestehen wollen, mit seiner eigenen Reaktion dort klarzukommen.
Genau diese Zeit nimmt sich Bergsteiger Thomas Huber nun:
"Jetzt bin ich froh, ab morgen lange in den Bergen sein zu dürfen, mich von dieser Welt abzukoppeln und endlich weinen zu dürfen. Ich hoffe, dass wir alle, besonders Marina, auch die Zeit bekommen, es gut zu verarbeiten. Und so gut kannte ich Laura, dass es ganz im ihren Sinn wäre, dass jetzt endlich Ruhe einkehrt. Bitte seid respektvoll."
FOCUS