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„Manchmal ekelt es mich“: Wie man das Tabu rund um das Intim- und Sexualleben von Alzheimer-Patienten bricht

„Manchmal ekelt es mich“: Wie man das Tabu rund um das Intim- und Sexualleben von Alzheimer-Patienten bricht

Stephanie Wiélé Veröffentlicht am 07.07.2025 um 13:30 Uhr, aktualisiert am 07.07.2025 um 14:13 Uhr

Anhand von Erfahrungsberichten, klinischen Analysen und ethischen Überlegungen beleuchtete ein von France Alzheimer 06 organisierter Abend die komplexen Probleme der Enthemmung, der Einwilligungsproblematik und der Wahrung der Würde bei Alzheimer. Foto: iStock

Das Intim-, Gefühls- und Sexualleben von Menschen mit Alzheimer ist ein heikles, ja sogar tabuisiertes Thema. Dennoch ist es sowohl in der häuslichen als auch in der stationären Pflege unerlässlich, diese Aspekte zu berücksichtigen.

Um das Schweigen zu brechen und die Debatte zu eröffnen, organisierte France Alzheimer 06 einen großen Ethikabend (1) für Angehörige der Gesundheitsberufe im Institut Claude Pompidou in Nizza.

Unter den zahlreichen Rednern gab Dr. Aurélie Mouton, Neurologin am Memory Resources and Research Center (CMRR) des Universitätsklinikums Nizza, wertvolle Einblicke in die medizinischen Ursachen, die bei Betroffenen zu Verhaltensänderungen führen können.

Welche Gehirnmechanismen stecken hinter den Verhaltensänderungen bei Menschen mit Alzheimer?

Die Alzheimer-Krankheit ist eine fortschreitende neurodegenerative Erkrankung, die zur Zerstörung von Neuronen führt, hauptsächlich aufgrund der abnormen Ansammlung von Proteinen (Amyloid und Tau) im Gehirn. Diese Hirnschädigungen beeinträchtigen nach und nach verschiedene Bereiche, darunter die Frontalregionen, die für die Steuerung von Verhalten und Emotionen verantwortlich sind. Sind diese Regionen betroffen, ist die Fähigkeit zur Kontrolle von Emotionen und Verhalten beeinträchtigt. Dies erklärt das Auftreten verschiedener Symptome: Gedächtnisstörungen, Sprachschwierigkeiten, Orientierungslosigkeit, Apathie, Reizbarkeit sowie Veränderungen im Ausdruck von Wünschen und Verhaltensweisen, auch sexueller Natur.

Zum Beispiel?

Patienten können ein gesteigertes sexuelles Verlangen verspüren, das sich manchmal in wiederholten Aufforderungen oder unangemessenem Verhalten in der Öffentlichkeit äußert, wie z. B. der Diskussion intimer Themen oder unangemessenem Verhalten. Umgekehrt können einige Patienten ein vermindertes sexuelles Verlangen und eine verminderte Eigeninitiative, Rückzug und verminderten emotionalen Ausdruck verspüren. Diese Veränderungen stören Beziehungen und erfordern ständige Anpassung.

In welchem ​​Stadium der Erkrankung können diese Störungen auftreten?

Es hängt alles von der klinischen Form ab. In manchen Fällen kann die Enthemmung bereits im Frühstadium auftreten, in anderen verschlimmert sie sich im Verlauf der Krankheit allmählich. Sie kann zunächst unbemerkt bleiben und sich dann mit der Zeit immer stärker verstärken.

Kann dieses Thema problemlos in einer Beratung angesprochen werden?

Nein, es wird selten spontan erwähnt, außer wenn die Störungen wirklich belastend werden. Es besteht weiterhin ein gewisses Tabu, sowohl bei Patienten als auch bei ihren Betreuern. Fachkräfte versuchen jedoch, das Thema anzusprechen, insbesondere wenn sie das Vorliegen von Verhaltensstörungen vermuten.

Wie unterstützen wir Paare, die mit diesen Veränderungen konfrontiert sind?

Dies beginnt mit dem Dialog: Es ist wichtig, angesichts von Schwierigkeiten nicht isoliert zu bleiben. Je nach Art der Störungen (Enthemmung, Apathie usw.) kann die Überweisung an spezialisierte Fachkräfte empfohlen werden: Sexologen, Psychologen oder Einrichtungen für Verhaltensstörungen.

Bei erektiler Dysfunktion kann auch eine urologische Meinung in Betracht gezogen werden.

Ziel ist es, eine an die jeweilige Situation angepasste Unterstützung zu bieten, die die spezifischen Bedürfnisse des Paares berücksichtigt und den Zugang zu Unterstützungs- und Zuhörressourcen fördert.

1. France Alzheimer 06 hat für die Jahre 2024 und 2025 drei Arbeitsgruppen eingerichtet, in denen rund vierzig Fachleute aus dem Gesundheits-, Medizin- und Sozialwesen zusammenkommen. „ Diese Treffen ermöglichten es, problematische Situationen im Zusammenhang mit dem Intim-, Gefühls- und Sexualleben bei Alzheimer-Patienten zu analysieren und konkrete Lösungen zu erarbeiten“, erklärte Federico Palermiti, Präsident von France Alzheimer 06.

Während des Ethikabends las Maéva Mahieux-Caccamo, Psychologin von France Alzheimer 06, den bewegenden Bericht einer Pflegerin vor, der Ehefrau eines an Alzheimer erkrankten Mannes.

In dieser Geschichte erinnert „Madame C.“ an den tiefen Bruch der fleischlichen Bindung, die sie seit der Bekanntgabe der Diagnose im Jahr 2022 verband: „Manchmal empfinde ich Ekel: Sein Körper ist mir fremd geworden, die Anziehungskraft ist über Nacht verschwunden, vor allem seit seine Hygieneprobleme auftauchen. Etwas ist zerbrochen in unserer Intimität, im Hautkontakt. Er trägt eine Windel, holt seinen Penis raus und fragt mich: ‚Also, was machen wir jetzt?‘ Ich erkenne den Mann nicht mehr, für den ich mich so sehr interessiert und angezogen fühlte. Selbst nach dem Waschen ist es nicht mehr sein Geruch, sondern der der Krankenschwester. Ich habe einen Fremdkörper vor mir.“

Ihr Mann, einst Naturist, legte großen Wert auf den Körper. „ Er sagte mir oft: ‚Zähne und Genitalien müssen immer sauber sein.‘ Heute scheint er sich dieser Bedenken überhaupt nicht bewusst zu sein.“

„Frau C.“ erwähnt auch die neuen, beunruhigenden „Gewohnheiten“ ihres Mannes: „Er schaut sich jeden Tag Pornovideos an, obwohl er sich am Computer nicht wohlfühlt. Anfangs war das unangenehm, aber jetzt gehe ich nachmittags allein raus und er macht, was er tun muss. Ich habe mir sogar Kopfhörer gekauft, damit er es nicht hört.“

„Frau C.“ beklagt die anhaltende Tabuisierung dieser Themen: „Ich habe Freunde im Bridgeclub, aber wir sprechen selten über die Krankheit und ihre Auswirkungen auf das Intimleben. Wir brauchen Gesprächskreise, zum Beispiel für Frauen.“

Die Pflegerin blickt gelassen in die Zukunft: „ Wenn mein Mann eines Tages ins Pflegeheim kommt, denke ich, wird er noch unbefangener sein, sich vielleicht zu anderen Frauen hingezogen fühlen. Aber das stört mich nicht. Für mich muss Sexualität mit Geborgenheit und Loslassen verbunden sein, und das ist heute nicht mehr möglich.“

Eine ethische Frage

Das Intim-, Gefühls- und Sexualleben wird heute von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Hohen Gesundheitsbehörde (HAS) als Grundrecht anerkannt und weist darauf hin, dass diese Dimensionen für die Menschenwürde von wesentlicher Bedeutung sind.

In medizinischen und sozialen Einrichtungen, die Alzheimer-Patienten aufnehmen, sind wir jedoch häufig mit komplexen Situationen konfrontiert: unangemessenes Verhalten, Enthemmung, Schwierigkeiten im Hinblick auf die Einwilligung oder familiäre Bedenken.

Wie Thomas Chastagner, Direktor des Pflegeheims Les Jardins de Sainte-Marguerite, erklärte, geht es dabei „ um die Suche nach einem empfindlichen Gleichgewicht zwischen dem Respekt für die Privatsphäre, der Sicherheit der Bewohner und den Anforderungen des Gemeinschaftslebens.

Auch der Sexualwissenschaftler Dr. Albert Barbaro betonte die Bedeutung einer ethischen und individuellen Betreuung: „ Warum nicht gleich beim Eintritt in die Einrichtung die Erwartungen und Lebensgewohnheiten der Bewohner in Bezug auf Intimität und Sexualität erfassen? Ethische Überlegungen müssen es ermöglichen, die Rechte und emotionalen Bedürfnisse jedes Einzelnen zu respektieren und sich gleichzeitig an die Realität der Krankheit und die kollektiven Rahmenbedingungen anzupassen.“

Nice Matin

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