Staatenlosigkeit in Deutschland: Wie Christiana Bukalo für die Rechte der (vielen!) Menschen ohne Pass kämpft

Staatenlosigkeit in Deutschland: So setzt sich Christiana Bukalo mit ihrer Organisation Statefree für Staatenlose ein.
Während dieser Text geschrieben wird, sollte Christiana Bukalo eigentlich in Miami sein. Sie wäre dort für ihre Arbeit mit der von ihr gegründeten Non-Profit-Organisation Statefree ausgezeichnet worden und war zu einer Konferenz eingeladen. Doch ihr wurde das Visum verwehrt – wieder einmal. Bukalo, geboren und aufgewachsen in einem Vorort von München, ist staatenlos. Die Geburten ihrer Eltern wurden in deren westafrikanischem Heimatland nicht registriert, und so konnten sie, als sie vor über 30 Jahren nach Deutschland kamen, ihre Staatsangehörigkeit nicht nachweisen. Und obwohl die 31-Jährige ihr ganzes Leben hier verbracht hat, studierte und arbeitet, hat Christiana Bukalo keine deutsche Staatsbürgerschaft. Und auch sonst keine.
Was das bedeutet, merkt sie erst peu à peu. In der Schulzeit muss ihre Klasse einmal zum Schwimmunterricht in einen Nachbarort fahren, da das Schwimmbad in ihrem Wohnort Puchheim saniert wird – Christianas halbjährlich vergebene Duldung gilt aber nur für ihren Heimat-Landkreis. "Ich weiß noch genau, dass ich mich, als wir mit dem Bus an diesem Ortsschild vorbeigefahren sind, gefragt habe: Sage ich jetzt jemandem, dass ich hier eigentlich gar nicht sein darf ?", erzählt sie im Interview, das wir kurz vor dem vierten Jahrestag der Gründung von Statefree führen. So etwas sei immer mit viel Scham verbunden gewesen. In ihrer Jugend engagiert Bukalo sich ehrenamtlich, ist oft als Betreuerin von Jugendfreizeiten der evangelischen Kirche im Einsatz. Als diese aber das erste Mal in Spanien statt finden soll, kann sie nicht mitkommen, denn Christiana hatte bis zu ihrem 18. Geburtstag keinen Reiseausweis. "Welche Kinder denken schon darüber nach, was ihre Rechte sind? Man nimmt ja erst mal alles so hin, wie es ist. Obwohl ich heute sagen würde: Reisen ist so ein großes Privileg, es gehört gar nicht zu den größten Problemen von staatenlosen Personen. Damals aber war es der Punkt, bei dem mir meine Benachteiligung im Vergleich zu anderen am stärksten aufgefallen ist", sagt sie. Und natürlich beim Thema Ausweisen und Momenten wie "das erste Bier bestellen". "Ich konnte da ja nicht einfach meine Duldung zeigen: so ein DIN-A4-Blatt, auf dem auch noch mein Name falsch geschrieben war."
Obwohl die Empörung über die Ungerechtigkeiten immer größer werden, schiebt Bukalo das Thema eher weg, versucht, so gut sie kann, ein "normales" Leben zu führen. Sie studiert (an einer privaten Uni, an einer staatlichen ist es ihr ohne Staatsangehörigkeit nicht erlaubt – sie muss also einen Kredit auf nehmen), arbeitet in der PR, später in der Organisationsentwicklung. Von ihrem ersten gut bezahlten Job möchte sie sich eine Reise nach Marokko gönnen und endlich Gebrauch von ihrem Reiseausweis für Staatenlose machen. Sie bereitet sich vor, checkt die Einreisebestimmungen, bekommt aber sowohl von der marokkanischen Botschaft als auch der Münchner Ausländerbehörde keine Informationen. Sie fliegt dennoch – und wird nach stundenlangen Sicherheitschecks abgewiesen; muss nach einem 20-stündigen Flughafenaufenthalt mit dem ersten Flieger zurück nach Deutschland. "Das war der Moment, in dem ich die ganze Tragweite des Problems realisiert habe. Es ist eine Sache, dass man staatenlos ist, aber es ist eine andere, dass man nicht mal die Infos bekommt, die man bräuchte, um sich als staatenlose Person selbst das Leben zu strukturieren", sagt sie. Bukalo recherchiert, stößt auf die Zahlen und ist schockiert: In Deutschland leben heute rund 126 000 Personen ohne Staatsangehörigkeit, weltweit sind es schätzungsweise 15 Millionen. "Ich dachte dann: Wenn es so viele Leute betrifft, warum ist es dann so eine isolierende Erfahrung als staatenlose Person? Und wie wäre es eigentlich, wenn man einen Ort schafft, wo Staatenlose sich begegnen können?" Im Internet stößt sie auf ein paar Organisationen, die zu dem Thema arbeiten, stellt dann aber fest, dass bei keiner von ihnen auch staatenlose Personen involviert sind. “Das muss man sich mal vorstellen! Staatenlosigkeit ist so unsichtbar von außen. Es würde ja sofort auffallen, wenn es einen Verein für Frauenrechte gäbe, wo nur Männer arbeiten. Bei Staatenlosigkeit war das aber so.”
In Deutschland leben rund 126 000 Personen ohne Staatsangehörigkeit. “Wenn es so viele Leute betrifft, warum ist es dann so eine isolierende Erfahrung?”Sie beschließt, dem mit ihrer eigenen Organisation etwas entgegenzusetzen. Am 17. April 2021 gründet sie Statefree, mit dem Ziel, "Community, Sichtbarkeit und Gleichberechtigung für staatenlose Personen zu schaffen. Das machen wir, indem wir die Rolle von staatenlosen Personen von Opfern zu Gestaltenden des Systems machen. Wir möchten erreichen, dass Entscheidungen, die staatenlose Per sonen betreffen, auch mit ihnen geformt werden".
Diese Personen haben zum Beispiel kein Wahlrecht. Obwohl sie komplett davon fremdbestimmt sind, was in der Politik entschieden wird, haben sie keinerlei Einfluss auf sie. Zur Einbürgerung von Menschen in Deutschland gibt es viele Voraussetzungen: Aufenthaltsdauer, Bildung, Sprachkenntnisse, gesicherter Lebensunterhalt – alles Dinge, hinter die Christiana Bukalo einen dicken Haken setzen könnte. "Aber die Hauptvoraussetzung sind eine geklärte Identität und Staatsangehörigkeit. Wenn man es ganz krass herunterbricht, braucht man einen Pass, um einen Pass zu bekommen. Vor allem in Deutschland ist es so, dass Identität quasi gleichgesetzt wird mit der Staatsangehörigkeit. Dabei setzt sich eine Identität aus unterschiedlichen Dingen zusammen – meinem Namen, Geburtsdatum oder -ort zum Beispiel." Bukalo weist außerdem darauf hin, dass gerade hierzulande ein stärkeres Bewusstsein für Staatenlosigkeit vorherrschen müsste. "Während des Zweiten Weltkriegs wurden gewisse Gruppen von Deutschland staatenlos gemacht. Hannah Arendt wurde staatenlos gemacht. Albert Einstein war auch staatenlos, und trotzdem würde man niemals sagen, diese Menschen hätten keine Identität."
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