Lucerne Festival: Michael Haefligers grosse Schuhe


Manuela Jans / Lucerne Festival
Ende gut, alles gut. Die Redewendung ist im Alltag schnell zur Hand, wenn irgendwo ein Projekt oder auch eine längere Lebens- und Schaffensphase einen Abschluss gefunden hat. Sie passt fast immer und klingt obendrein grosszügig. Schliesslich suggeriert der Ausspruch, der auf Shakespeare zurückgehen soll: Da hat sich ein Kreis geschlossen, und mit dem Erreichten kann man alles in allem zufrieden sein. Doch insgeheim wissen wir: Mit dem flotten Spruch wird oft auch die eine oder andere Ungereimtheit übertüncht und die Lösung manch offener Frage auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Gelegentlich kaschiert er sogar eine ganz andere Überlegung, nämlich die: lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
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In Luzern ging an diesem Sonntag auch etwas zu Ende: nicht nur das gut vierwöchige Sommerprogramm des Lucerne Festival, sondern parallel dazu die mehr als ein Vierteljahrhundert umspannende Ära des Intendanten Michael Haefliger. Niemand wollte da bloss von «Ende gut, alles gut» reden – grössere und würdigere Worte schienen am Platz, sogar etwas Pathos. Zugleich durfte man in Rückblicken und Erinnerungen schwelgen. Den Rahmen dafür bot im ausverkauften KKL ein knapp vierstündiges Galakonzert mit dem Titel «Les Adieux».
Würdigungen und bewegte Abschiedsworte gab es hier zuhauf – und zu Recht. Immerhin hat Haefliger im Verlauf dieser 26 Jahre das Angebot und das Budget der ehemaligen Internationalen Musikfestwochen umfassend ausgebaut und das weitestgehend privat finanzierte Festival dauerhaft im exklusiven Zirkel der führenden Musikfestspiele Europas etabliert. Institutionen wie das Lucerne Festival Orchestra, das er mit dem Dirigenten Claudio Abbado gegründet hat, und die Festivalakademie, für die er zuerst Pierre Boulez, später Wolfgang Rihm als Spiritus Rector gewann, sind zu weit ausstrahlenden Leuchttürmen in der Musikwelt geworden.
Wider die VerbohrtheitDer Geehrte selbst wollte allerdings nicht allzu viel Aufhebens um seinen Abschied machen. «Intendanzen enden, die müssen auch irgendwann einmal enden – so wie meine nach dieser Saison», hatte Haefliger, betont nüchtern, schon im Vorfeld im Gespräch mit dieser Zeitung verkündet. Das Festival aber gehe weiter.
Auf den kürzesten Nenner gebracht, war das zugleich die zentrale Idee hinter dem raffinierten Saisonmotto «Open End», das sich von der grandios gelungenen Eröffnung mit Mahlers 10. Sinfonie durch zahlreiche Konzerte zog und das Paradox des «offenen Endes» in der Musik anschaulich machte. Besonders eindringlich gelang dies nochmals wenige Tage vor der Verabschiedung Haefligers bei einem Gastauftritt der Münchner Philharmoniker unter der Leitung ihres designierten Chefdirigenten Lahav Shani.
Das Konzert fand just am Donnerstagabend statt, dem Tag, als die beschämende Ausladung des israelischen Dirigenten und seines Orchesters durch ein Musikfestival in Belgien für Entsetzen in der Kulturwelt sorgte. Wer sich die politische Verbohrtheit der dortigen Verantwortlichen vor Augen führen wollte, brauchte sich bloss einmal vorzustellen, das Lucerne Festival hätte die Besucher an diesem Abend mit der in Belgien wörtlich so gebrauchten Begründung nach Hause geschickt, Shani habe sich nicht ausreichend klar vom «genozidalen Regime in Tel Aviv» distanziert. Eine bizarre Vorstellung! En passant macht einem das Gedankenexperiment bewusst, dass das Lucerne Festival unter Haefliger nie eine Bühne für derartige politische Kundgebungen auf Kosten der Kunst gewesen ist.
Patrick Hürlimann / Lucerne Festival
Dass das Konzert in Luzern ungeachtet der nervlichen Belastungen für die Betroffenen stattfand – übrigens unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen –, war mehr als ein trotziger Triumph. Es war auch künstlerisch ein kleines Wunder. Denn Shani brauchte nur wenige Minuten, um die angespannten Gemüter auf die gemeinsame Sache einzuschwören. Spätestens mit dem Einsatz der brillanten Geigerin Lisa Batiashvili in Beethovens Violinkonzert kam man in ein intensives, klangsinnliches Dialogisieren, das die Umstände vergessen machte. Es sind solche Konzerte, die eindrucksvoll vorführen, wie weit sich grosse Kunst über derartige Niederungen erheben kann, wenn man sie denn lässt.
Für das Lucerne Festival hatte der Auftritt auch noch in anderer Hinsicht besondere Relevanz: Das Konzert lieferte mit Schuberts «Unvollendeter» sozusagen auf der Zielgeraden ein Schlüsselwerk nach, das in keinem Programm zum Thema «Open End» fehlen dürfte. Shani gelingt in einer wunderbar gesanglich ins Weite und Offene ausgreifenden Lesart tatsächlich das Kunststück, die zwei abgeschlossenen Sätze der Sinfonie vollendet, aber gleichzeitig wie ein nie eingelöstes Versprechen klingen zu lassen.
Moment der RührungEtwas blieb anderntags auch bei der Aufführung von Wagners «Siegfried» offen, einem weiteren Höhepunkt der finalen Festivalwoche. Noch gibt es nämlich nur ein paar hoffnungsvolle Signale, dass Haefligers Nachfolger Sebastian Nordmann das wegweisende «Ring»-Projekt in Zusammenarbeit mit den Dresdner Festspielen im Sommer 2026 mit der «Götterdämmerung» fort- und zu Ende führen wird. Ein Abbruch wäre indes ärgerlich, schliesslich hat die geplante Gesamtaufführung der vierteiligen Nibelungen-Saga auf Originalinstrumenten die musikalische Wagner-Interpretation schon jetzt so tiefgreifend aufgemischt wie kein anderer «Ring»-Zyklus seit Jahrzehnten.
Priska Ketterer / Lucerne Festival
Durch die ungewöhnlich fliessenden Tempi des Dirigenten Kent Nagano dauert der «Siegfried» hier deutlich unter vier Stunden, gewinnt aber endlich den meist nur behaupteten Charakter als Komödie innerhalb der Tetralogie zurück. Die agilen, nicht zu grossen Stimmen von Thomas Blondelle in der Titelrolle und Thomas Ebenstein als Mime sind ideal auf den leichteren, fast parlandoartigen Tonfall der halbkonzertanten Aufführung abgestimmt. Eine Inszenierung vermisst man kaum, weil die alten Instrumente Wagners raunende Beschwörung des Mythos so naturalistisch und oft auch drastisch pointiert erzählen, dass man sich wie in einem Film-Soundtrack fühlt. Gleichzeitig lernt man hier, wie sehr Wagners Musik im 20. Jahrhundert klanglich rundgeschliffen wurde.
Die Verabschiedung Haefligers am Sonntag wurde dann zum Glück keine tränenselige Veranstaltung, auch wenn dem scheidenden Intendanten beim Dank an sein Team und an die in grosser Zahl versammelten künstlerischen Weggefährten kurz die Stimme versagte. Das Publikum fängt den berührenden Moment mit einer Ovation auf, offenkundig spüren alle, dass hier nach 26 Jahren nicht nur ein Vertrag endet, sondern auch ein zentrales Lebenswerk seinen Abschluss findet.
Dass während dieser Zeit Projekte gescheitert und Fragen offengeblieben sind, gesteht Haefliger freimütig ein. Der Rückblick auf Gelungenes und Misslungenes gehört bei solchen Abschieden dazu. Entscheidend für die Bewertung dieser Ära wird jedoch sein, welche der geschaffenen Strukturen sich unter der neuen Ägide bewahren oder weiterentwickeln lassen. Schon jetzt ist klar, dass unter Sebastian Nordmann vieles fortgeführt wird, die Zeichen stehen auf Kontinuität.
Nordmann gibt denn auch am Rande zu Protokoll, er höre überall, es seien doch recht grosse Schuhe, in die er nun schlüpfen müsse. Es klingt allerdings nicht so, als würde ihn das allzu sehr beunruhigen.
nzz.ch